Hilfen für den sprachlichen Alltag.

Rebecca Niazi-Shahabi

Saturday Night / Auszug

Wortlos eilen wir im Gang aneinander vorbei in Richtung Küche, Drucker oder Schreibtisch. Wir wussten, diese Nacht wird hart, auf vielen Besprechungen haben wir uns auf diese Aufgabe eingeschworen: Mit unserer Arbeit für die Kinderwelthilfe neue Maßstäbe in der Publikumswerbung zu setzen. Es ist Samstag, 23 Uhr 30, die letzte Besprechung war vor zehn Minuten, nun geht es an den Feinschliff der zwei Entwürfe, für die sich Hajo, unser Kreativdirektor, nun endgültig entschieden hat. Das bedeutet für die Praktikanten, passende Bilder aus dem Internet oder aus den Fotobüchern zu suchen und für die Texter, die bestehenden Überschriften zu überarbeiten. Die Grafiker werden die neuen Überschriften einsetzen und letzte Hand ans Layout legen und wenn dann Texter, Praktikanten, Marketingleute und Kreativdirektoren am frühen Morgen nach Hause gehen, werden sie die fertigen Kampagnen ausdrucken und auf Präsentationspappen aufziehen.

Oliver, unser Unit-Chef, Silke, meine Art-Partnerin, und ich sitzen in unserer Ecke im Großraumbüro über den vier Motiven, die uns zugeteilt wurden. Silke zeigt am Bildschirm die Montagen, die sie gemacht hat: Schwarze Babys mit ausgestanzten runden Löchern anstelle eines Bauches. Einen Text gibt es auch: „Fühlen Sie manchmal eine innere Leere? Wenn Sie sich um seine kümmern, kurieren Sie vielleicht auch Ihre.“ „Wie findest Du das“, fragt sie mich. Es ist ein erhebendes Gefühl, zu wissen, dass jeder von uns seinen Teil dazu beiträgt, dass das Projekt gelingt. Mein Tiefpunkt, den ich gegen 21 Uhr hatte, ist überwunden. Vor 2 1/2 Stunden hatte ich gedacht, dass ich nicht mehr durchhalte, der Kampf gegen meine Müdigkeit teilte die Zeit in lange, qualvolle Fünf-Minutenabstände. Jetzt erzeugt die Mischung aus Übermüdung und Überschwang eine vollkommene Konzentration. Es ist wie eine Droge, die wir alle eingenommen haben und wie auf Droge lächeln wir uns zu, wenn wir auf Wattebeinen in die Küche gehen, um uns Tee oder Tütensuppen warm zu machen. Tee und Suppe bekommen um diese Zeit eine andere Bedeutung als am Tag. Nun sind es die essentiellen Zutaten, die einen in dieser Ausnahmesituation leistungsfähig erhalten. Jeder hat sein Geheimrezept – die richtige Mischung aus Wasser und Kaffee, Zigaretten und Knäckebrot, um wachen Sinnes zu bleiben. Die unterschiedlichen Angewohnheiten werden wie Überlebenstaktiken ausgetauscht: „Also, ich esse nach 22 Uhr nur sehr wenig und dann nur zuckerhaltige Sachen, dafür trinke ich einen Liter Wasser pro Stunde.“ „Wenn mir schon der Kopf auf den Tisch fällt, dann hilft mir eine Mischung aus Mineralwasser, einen Schuss Cola und dazu eine Vitamin C-Tablette: Dieses Gebräu ist unschlagbar, zwei Minuten später bin ich wieder frisch.“ Die Eigenheiten der Kollegen werden in solchen Stunden ernst genommen, denn es ist wichtig, dass jeder während der unbezahlten Überstunden bei Kräften und bei Laune bleibt: Als Lohn gibt es das Gefühl, unersetzlich zu sein.

Übermüdung glättet auch die am Tag gehegten Aggressionen. Um 23 Uhr 45 ist mir Oliver ganz sympathisch, sein autoritäres Gehabe hat sich in väterliche Fürsorge gewandelt, schließlich ist er verantwortlich für unsere kleine Truppe: Jetzt müssen Ergebnisse her und er hat keine Zeit und Kraft mehr, bei jeder neuen Textfassung, die ich ihm vorlege, den Kopf zu schütteln. Ich darf ihn nun alle zehn Minuten stören, wenn ich einen Einfall habe. Er steht sogar auf, um sich die neuen Überschriften auf meinem Bildschirm anzusehen: „Ja, das ist schon ganz gut, das geht in die Richtung, die Hajo und ich uns für diese Kampagne wünschen, aber das muss sprachlich noch genauer rüberkommen. Das kannst Du auch, deswegen haben wir Dich gebucht.“ Ich schreibe ohne nachzudenken, tippe irgendwelche Sätze in den Rechner, kombiniere die Worte „Alleinsein“, „Hunger“, „das Recht auf Leben“ und „Chance statt Hilfe“. Silke baut meine Texte in das Layout ein. Mit meiner achten Tasse Kaffee stelle ich mich hinter sie und Silke fragt mich, die Texterin, um meine Meinung zu ihrem Entwurf. Eine schwarze, magere Frau mit einem Turban und ein paar Holzscheiten im Arm schaut dem Betrachter entgegen. Im Hintergrund sieht man eine Hütte, davor eine Feuerstelle und einen großen Topf aus Blech. Hinter der Frau, auf dem Boden, liegt ein in schmutzige Decken gewickeltes Baby. „Was hältst Du davon, wenn der Text unter dem Kinn der Frau sitzt?“ fragt Silke. Ich antworte, das Motiv hätte mehr Kraft, wenn der Satz über dem Baby stünde, in einer so kleinen Schriftgröße, dass man genau hinsehen muss, um ihn lesen zu können. Das würde die Botschaft der Kampagne unterstützen, dass diese Menschen so leicht vergessen werden. Silke ist begeistert von meinem Vorschlag. „Eine gute Idee“, sagt sie. „Das hat man auch noch nicht so oft gesehen.“

Oliver kommt dazu und wirft einen Blick auf Silkes Bildschirm, vertraulich legt er die Hand auf meine Schulter und fragt, wie weit wir sind: „Das sieht doch schon ganz gut aus und der Text gefällt mir jetzt auch besser.“ Silke strahlt und erklärt, sie hätte versuchshalber meinen Text gekürzt, weil er nicht ins Layout gepasst hätte: Mir war das gar nicht aufgefallen, ich lese den gekürzten Satz und er ist wirklich besser. Ich scherze: Na, dann kann ich ja nach Hause gehen, bei einer so multitalentierten Grafikerin und ärgere mich, dass ich nicht selber draufgekommen bin.

Mitternacht: Die anderen Unit-Chefs kommen vorbei und lassen sich von Silke zeigen, was wir inzwischen gemacht haben und Gregor, der Reinzeichner schaut auf Silkes letzten Entwurf und sagt dabei immer wieder: „Das ist gut, das ist wirklich gut.“

Unruhe entsteht in der Mitte des Büros, das Essen wird geliefert: Denn wer bis nach 20 Uhr in der Agentur bleibt, darf sich auf Agenturkosten ein Essen bestellen und wer bis nach Mitternacht bleibt, der bekommt sogar das Taxi nach Hause bezahlt.

Einige gehen gleich mit den Styroporbehältern an ihre Schreibtische zurück, doch die meisten setzen sich an die vier Tische, die zu einer großen Arbeitsfläche zusammengestellt worden sind: Die wohlverdiente Pause, auf die man sich die ganze Zeit gefreut hat: Man isst Sushi oder Huhn in scharfem Curry, trinkt dazu Wasser und Kaffee. Lieber hätte man natürlich vier Stunden früher und zu Hause gegessen, so wie es mit einem Freund oder Freundin am Samstagmorgen verabredet gewesen war, doch trotzdem kommt fast heimelige Stimmung auf. Die Praktikantinnen neben mir sprechen wenig, am anderen Ende des Tisches prahlen die Festangestellten mit ihrem Leid: Wer hat wie lange Freitagnacht, am Samstag und Sonntag hier arbeiten müssen, wer hat seinen Freund oder die Freundin das wievielte Wochenende nicht gesehen. Wie wundervoll und kostbar erscheinen die mannigfaltigen Freizeitaktivitäten, wenn man sie nicht macht: Das nicht geführte Gespräch mit einem Freund lässt die Freundschaft umso inniger erscheinen, der nicht gemachte Ausflug mit der Freundin ist voller Harmonie und Leichtigkeit, die Zeitung, die man nicht im Lieblingscafé gelesen hat und die Sauna, die man nicht besucht hat, hätten einen so wunderbar entspannt. Und wie gerne hätte man für Freunde und Familie gekocht und was für ein schöner Abend wäre das geworden, bei interessanten Gesprächen und einem guten Glas Wein.

Danach verstummt das Gespräch, niemand nimmt es wieder auf, denn jeder weiß, dass er seine Ressourcen schonen muss. Die Marketingassistentin hat eine Kerze angezündet und wir sitzen zusammen bis 1 Uhr.