Hilfen für den sprachlichen Alltag.

Rebecca Niazi-Shahabi

Nett ist die kleine Schwester von Scheisse

Nett ist die kleine Schwester von Scheiße / Auszug

Er war ein Tier, ein richtiger Mann. Seit er öffentlich auftrat, erschien es plötzlich als etwas durchaus Erstrebenswertes, seinen Körper nicht mehr zu kontrollieren. Er rülpste und furzte, wenn es ihm danach war, aß und trank mehr, als er vertrug, hatte unzählige Liebschaften, und stand irgendwo ein Regal, lehnte er sich dagegen, so als könne er sich ohne Stütze nicht mehr aufrecht halten. Das war nicht manierlich, aber provokant. Und aufregend. Viele Frauen haben sich in ihn verliebt, Männer haben ihn kopiert: Marlon Brando wurde durch sein rüpelhaftes Benehmen in den 60ern zur Ikone.

» Barbarisch, unästhetisch und unzivilisiert « sei es, schreibt der Restaurantkritiker Wolfram Siebeck ein halbes Jahrhundert später in der Zeitschrift Der Große Knigge, Weingläser am Kelch anzufassen, anstatt sie am Stiel zu halten. Das Schlimmste aber sei, dass das Fernsehen diese schlechten Manieren auch noch verbreite, indem es Schauspielern und Komparsen, Talkshowgästen und Moderatoren erlaube, Wein- und Sektgläser auf diese unelegante Art und Weise in die vielen Kameras zu halten. Schauspieler, Models und Rock- und Fernsehstars, die Vorbilder unserer heutigen Gesellschaft, benehmen sich sowieso meistens schlecht. Denn das gehört zu ihrem Selbstverständnis. Die falsch gehaltenen Gläser zählen da allerdings noch zu den relativ harmlosen Entgleisungen. Manieren sind ein Spiel. Sie sind gesellschaftliche Codes, mit denen sich Botschaften mit Mitmenschen austauschen lassen. Dass dabei nur eine Sorte von Botschaften erlaubt sein soll, davon sind bloß Einfallslose wie Wolfram Siebeck überzeugt.

Barbarisch, unästhetisch und unzivilisiert – na und?

Der Witz an diesem Spiel ist, dass es ebenso erlaubt ist, sich an die Regeln zu halten, wie, sich nicht an die Regeln zu halten – je nachdem, in welcher Stimmung jemand gerade ist: Will ich lieber nicht auffallen oder aber überraschen? Lieber anständig oder sexy wirken? Angepasst oder rebellisch? Schmeicheln oder provozieren? Habe ich Persönlichkeit genug, etwas zu riskieren und eine Chance, die sich mir bietet, zu nutzen – auch wenn ich damit gegen eine Regel verstoße?