Hilfen für den sprachlichen Alltag.

Rebecca Niazi-Shahabi

driving home

Driving Home / Auszug

Unser Rückflug von Israel nach Deutschland ging über Budapest, und da uns mehr als sieben Stunden Aufenthalt bevorstanden, hatte Sarah, die ungarische Geliebte meines Vaters, uns angeboten, in ihrer Wohnung im Zentrum der Stadt ein wenig auszuruhen. Am Vormittag des 26. Dezembers landeten wir auf dem Flughafen Feri Hegy 2. Seit dem Start in Tel Aviv hatte sich mein Vater wieder mal eine Reihe von Respektlosigkeiten geleistet, und meine Wut gegen ihn hatte sich derart gesteigert, dass ich, um sie zu verbergen, nur das Wort an ihn richtete, wenn es unbedingt notwendig war. Ich stellte mich mehrere Meter abseits, als er uns am weihnachtlich geschmückten Informationsschalter einen Platz im Shuttle-Service reservierte, der uns in die Stadt und nachher wieder zum Flughafen bringen sollte. Wortlos folgte ich ihm aus dem Flughafengebäude, schweigend warteten wir auf den Kleinbus, schweigend stiegen wir ein. Einziger Fahrgast außer uns war ein Engländer in Anzug und Krawatte mit einem Koffer und einer Plastiktüte mit Geschenken. Während der Fahrt schaute ich aus dem Fenster; die Gegend, durch die wir fuhren, war trist. Ich sah verkommene Häuser, brachliegende Grundstücke und verlassene Fabriken. Auf einem menschenleeren Platz vor einem russischen Kaufhaus stand einsam eine riesige Menorah mit Glühbirnen, die entweder aus waren oder so schwach brannten, dass ihr Licht an diesem diesigen Vormittag nicht zu sehen war. Über die mit Lichterketten geschmückte Freiheitsbrücke fuhren wir nach Buda. Rechts und links im Nebel ließen schwankende Lichter auf die Existenz weiterer Brücken schließen. Vor uns hob der heilige Gellért sein Kreuz. Dann hielt der Bus vor dem Hotel Gellért, ein Hoteldiener öffnete die Wagentür und der englische Geschäftsmann stieg aus. Fünf Minuten später setzte uns der Fahrer bei der Adresse ab, die ihm mein Vater auf einen Zettel geschrieben hatte.

Auf unser Klingeln hin öffnete der Hausmeister die Tür, gab uns den Wohnungsschlüssel und führte uns in die Küche. Dort zeigte er wortlos auf Teebeutel, Weißbrot, eingeschweißte Wurst und eine rote Kerze, die er offensichtlich für uns besorgt hatte, ging dann vor uns her ins Wohnzimmer, das mich mit seinem Kronleuchter und den Polstermöbeln an die Schlösser erinnerte, die ich als Kind auf einer Reise durch Bayern so gern besichtigt hatte, stellte sich auf einen mit exotischen Vögeln und Blüten gemusterten Teppich, beschrieb mit seinem Arm einen großen Kreis, was wohl bedeuten sollte, dass wir uns wie zu Hause fühlen sollten, und ließ uns dann allein.

Mein Vater, der während dieser stummen Prozedur freundlich lächelnd genickt hatte, änderte sein Verhalten völlig, kaum hatte der Hausmeister die Wohnungstür hinter sich geschlossen.

»Glaubt er, dass wir Schweine sind?« fragte er verärgert. »Dass wir so etwas essen? Nicht einmal Milch hat er gekauft.«

»Für ihn ist das vielleicht ein ganz normales Frühstück. Er hat es doch nur nett gemeint«, beschwichtigte ich.

»Das hältst du für Frühstück? Und wahrscheinlich wird er Sarah erzählen, wenn sie das nächste Mal nach Budapest kommt, er hätte wer weiß was für uns gekauft und dafür möchte er von ihr das Geld wiederhaben.« Mein Vater zündete sich eine Zigarette an und schritt rauchend im Wohnzimmer auf und ab. Ich hielt einen Aschenbecher unter seine Zigarettenspitze, bevor die Asche auf den scheußlichen Teppich fallen konnte.

Da ich ebenfalls wenig Lust auf Kochwurst und schwarzen Tee hatte, schlug ich vor, außer Haus zu frühstücken. Mein Vater schien meinen Vorschlag nicht gehört zu haben, folgte mir aber schlecht gelaunt, als ich die Wohnung verließ. Draußen war es dämmrig, es hatte zu nieseln begonnen, und kein Mensch war zu sehen. Zwei Minuten brauchte mein Vater, um sich in einem windgeschützten Hauseingang eine Zigarette anzuzünden. An einigen Fenstern blinkten weihnachtliche Sterne in verschiedenen Farben, die meist sparsam geschmückten Geschäfte waren geschlossen und ebenso die wenigen Cafés, an denen wir vorbei kamen.

»Dies ist eine europäische Hauptstadt und wir befinden uns im Stadtzentrum, da muss es doch ein offenes Restaurant oder einen Imbiss geben«, zischte mein Vater. Ein paar Häuser weiter blieb er stehen und deutete erbost auf einen Schriftzug, der auf das Fenster eines Lokals geklebt war: Spezialitätenrestaurant Jakov Cohen. »Da hast du's. In Budapest feiern sogar die Juden Weihnachten.« Schweigend gingen wir im Regen durch eine leere Hauptstraße mit grauen fünfstöckigen Häusern, in denen niemand zu wohnen schien. Ich konnte körperlich spüren, wie mein Vater immer aggressiver wurde. Vor jeder Ecke hoffte ich, wir würden endlich auf das lebendigere Viertel von Budapest stoßen, mit Restaurants, Cafés, jungen Leuten und Geschäften, die auch an Feiertagen geöffnet hätten.

Plötzlich bat mich mein Vater in einem völlig veränderten Ton umzukehren, da ihm schlecht sei. Tatsächlich, sein Gesicht war fahl und die angerauchte Zigarette hatte er auf den Boden geworfen. Wir kehrten um. Ich ging nun ein wenig schneller und mein Vater musste sich sichtlich bemühen, Schritt zu halten. Schweiß trat ihm auf die Stirn, obwohl er fror in dem dünnen Jackett, das in Tel Aviv völlig ausgereicht hatte. Unter einem Baugerüst blieb er stehen, lehnte sich gegen die Hauswand, hielt sich den Magen, und ich begriff: Die Situation ist ernst. Meine Wut milderte das allerdings nicht. Ganz im Gegenteil, es wäre meiner Meinung nach nur gerechtfertigt gewesen, wenn er auf dieser menschenleeren Straße, im verregneten und abweisenden Budapest zusammengebrochen wäre. Ungerührt musterte ich ihn, registrierte den Schweiß, das bleiche Gesicht, den unruhigen Atem und erwartete, dass er gleich über Schmerzen in der Brust oder in seinem linken Arm klagen würde. Ich hatte mich immer schon gewundert, wie sein Körper dieses Leben so lange aushielt, die Lügen, das schlechte Gewissen, die drei Schachteln Zigaretten am Tag. Und diese Stadt erschien mir plötzlich ideal geeignet als Kulisse für ein existentielles und tragisches Ereignis. Alles wäre so perfekt unangenehm: Ich würde versuchen, Hilfe zu holen, und an einem der unbewohnten Häuser klingeln. Wertvolle Minuten würden verstreichen, bis ich jemanden fände, der ausreichend Englisch spräche, um zu verstehen, was ich von ihm wollte. Dieser Jemand hätte vielleicht, wie viele Budapester, gar kein Telefon, es würde also dauern und dauern, bis endlich ein Krankenwagen unterwegs wäre. Auf der Fahrt ins Krankenhaus würde man feststellen, dass man für meinen Vater nichts mehr tun konnte. Da stünde ich dann: Allein im unfeierlichen Ambiente eines Krankenhausganges – mit den sterblichen Überresten meines Vaters, einer hohen Arztrechnung und einem Ticket für einen verpassten Flug.

Die Situation schrie geradezu nach einer solchen literarischen Wendung, jede Szene dieses Tages erhielt auf einmal eine schicksalhafte Bedeutung, konsequent aufeinander folgend führten sie zum Höhepunkt der Geschichte, der in wenigen Minuten erreicht sein würde. Meine Beziehung zu meinem Vater erschien mir plötzlich so sinnlos, ebenso wie unsere jährlichen Aufenthalte in Israel, die vertraulichen Gespräche, der Spaziergang durch diese Stadt, sein Leben. An der nächsten Ecke erbrach er Kaffee und eine Scheibe Weißbrot – etwas anderes hatte er an dem Tag noch nicht zu sich genommen. Ich schaute nicht hin und wartete. Er kam schwankend auf mich zu, doch bevor er mich erreichte, lief ich los, zurück zu Sarahs Wohnung. Auf gar keinen Fall durfte es dazu kommen, dass mein Vater sich bei mir einhakte. Die körperliche Berührung mit ihm war mir nie besonders angenehm gewesen, und in dem Zustand, in dem er jetzt war, war sie es ganz und gar nicht…